Das alte Europa
Ars Antiqua | |
Anonym, Reading, um 1240 | Stantipes (Ductia à 3) |
Anonym, um 1350, Robertsbridge-Codex | Stantipes |
Ritornell | |
Frankreich, 14. Jh. | Virelai "E Dieus commant" |
Italien, um 1400 | Salterello |
Ars nova | |
John Dunstable, um 1380 - 1453 | Sancta Maria |
Guillaume Dufay, gest. 1474 | Quel fronte signorille |
Gilles Binchois, gest. 1460 | Amoreux suy |
Oswald von Wolkenstein, 1377 - 1445 | Ain graserin |
Conradus de Pistoria, Modena, Bibl. Estense, 15. Jh. | Veri almi pastoris |
Frührenaissance | |
Heinrich Finck, um 1445 - 1527 | Veni redemptor gentium |
Anonym, 15. Jh., MS Basevi, Florenz 2439 | La Guercia |
Henry VIII, 1491 - 1547 | En vray amoure |
Anonym, ca. 1510 | Si j'ayme mon amy |
Ludwig Senfl, um 1486 - 1543 | Im Meyen |
Ich armes Käuzlein kleine | |
Hochrenaissance | |
Anonym, 16. Jh., Cambrai MS 124 | Pavana "Svizzera" |
Innocentius Dammonis, 16. Jh. | Jesu dulcis memoria |
Anonym, 16. Jh. | Ik weet en vrauken amorues |
Pierre Attaignant, um 1494-1552 | Pavane |
Jean de Castro, 1569 | Susanne un jour |
Christopher Tye, ca. 1500 - 1573 | In nomine I |
Spätrenaissance | |
Thomas Morley, 1557 - 1602 | O sleep, fond fancy |
Michael Praetorius, 1571 - 1621 | Courante II |
Erasmus Widmann, 1572 - 1634 | Barbara |
Costanzo Antegnati, 1549 - 1624 | Canzona "La Bottana" |
Giovanni Gastoldi, Balletti a tre voci, 1606 | Il Ballerino |
Ars Antiqua
Die Stantipes „Ductia“ ist die erste von 3 englischen Estampien in diesem Teil.
Das folgende Stück ist bereits eine Abwandlung der Estampie: die
Form ist zwar erhalten geblieben, aber es kann aufgrund der
Melodieführung und der Schwerpunktwechsel davon ausgegangen werden,
dass zu diesem Stück nicht getanzt worden ist.
Das Ritornell kommt wesentlich tänzerischer daher. Vor allem fällt
hier der traditionellere Satz auf, der mit seinen Borduntönen an
Instrumente wie Drehleier oder Dudelsack erinnert.
Bei dem französischen Virelai handelt es sich um ein Zeichen für
frühe Mehrstimmigkeit: die Oberstimme ist nicht nur eine verzierte
oder transponierte Version des Tenors, sondern folgt als
Begleitstimme rhythmisch und melodisch eigenen Regeln.
Den Teil beschließt ein italienischer Salterello. Dieser Springtanz
ist ein Paradebeispiel für die italienische Estampie – schematisch
dargestellt: Ao - Ac, B - A2o - B - A2c, C – Ao - C - Ac, D - C – Ao
- D - C - Ac.
Ars Nova
Dunstable war der bedeutendste Vertreter der englischen Schule in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Er hat alle Elemente älterer musikalischen Schöpfungen Englands mit französischer und italienischer Musik verschmolzen und damit einen neuen kantablen Melodiestil geschaffen. „Sancta Maria“ erinnert mit seinen langen melismatischen Phrasen noch deutlich an den gregorianischen Hymnus, doch dienen die beiden Instrumentalstimmen nicht allein der Begleitung, sondern weisen bereits eigene charakteristische Strukturen und Wendungen auf.
Die ersten Werke Dufays zeigen das Gepräge der französischen Ars Nova, die er in Cambrai gelernt hatte, doch bald werden auch bei ihm die Einflüsse italienischer Formen deutlich. Nach seiner Tätigkeit an der päpstlichen Kapelle weitete sich seine Technik zum persönlichen Stil aus, der für die gesamte franko-flämische Schule richtungsgebend werden sollte. „Quel fronte signorille“ ist ein recht virtuoses, fröhliches Stück mit sehr interessanten harmonischen Einfällen.
Binchois wurde in Mons geboren. Er war in jungen Jahren Soldat und stand im Dienst des Grafen von Suffolk. Bald darauf wurde er Kleriker und wurde Kaplan der burgundischen Hofkapelle und Kanonikus an mehreren Kirchen. Seine engen Beziehungen zu Dufay dürften schon sehr früh begonnen haben. Dieses Chanson war sicher schon eine frühe Form des Kunstliedes, darauf deuten verzierten Versschlüsse und die instrumentalen Zwischenspiele hin.
„Ain graserin“ weist ganz ähnliche Elemente auf. Es wirkt volksliedhaft, jedoch fällt eine diskrete Eigenständigkeit der Oberstimme auf, sowie die perfekte Beherrschung der bereits bei Binchois gehörten Zwischenspiele, die das im Text geschilderte Geschehen reflektieren oder vorantreiben. Der Südtiroler Oswald, der bereits im Alter von zehn Jahren als Laufbursche, Koch, Stallmeister etc. durch Südeuropa gereist war, begann nach seiner Rückkehr zu dichten und zu komponieren. Später führten ihn weitere Reisen ins Heilige Land, nach Frankreich und bis nach Marokko. Die Eindrücke, die er sammelte, formten sich unter seiner Hand zu einem reichen Stil, der für die weitere Entwicklung des Kunstliedes bestimmend wurde.
Conradus de Pistoria ist ein Repräsentant der manieristischen Kompositionsschule, die als Ars Subtilior bezeichnet wird. Ähnlich wie z. B. Gesualdo, der ein Höchstmaß an Expressivität mit den Stilmitteln der Spätrenaissance erreichte, statt sich dem frühbarocken Stil z. B. seines Zeitgenossen Monteverdi zuzuwenden, arbeitete auch Pistoria ausschließlich mit verfeinerten Formen der Ars Nova. Die Verwendung unterschiedlicher Metren in den verschiedenen Stimmen, sowie die rhythmische Verschiebung in diesem Stück versetzen den Zuhörer in eine permanente Spannung und Unruhe, da ihm nur selten eindeutige Fixpunkte zur Orientierung gegeben werden.
Frührenaissance
Heinrich Finck gilt als der erste große deutsche Meister der Musik. Sein greift auf ältere, streng gebundene Satzformen zurück. Bei seinem „Veni redemptor gentium“ finden wir im Cantus firmus, hervorgehoben durch das Kortholt, mit langen Notenwerten den gregorianischen Hymnus, der von allen anderen Stimmen frei umspielt wird.
Das Ricercar „La Guercia“ zeigt hingegen bereits polyphone Formen, die weit in die Zukunft weisen: ein klar definiertes Thema, das von Anfang bis Ende des Satzes durch alle Stimmen läuft und die bewegten kontrapunktierenden Gegenstimmen lassen bereits die barocke Fuge erahnen.
Heinrich VIII. war ursprünglich dafür bestimmt, Kleriker zu werden und genoss daher eine gründliche musikalische Ausbildung. Unter seiner Regierung wurde die englische Hofkapelle zu einer der berühmtesten Europas. Er versammelte an seinem Hof eine große Anzahl Musiker und Komponisten und komponierte von Fall zu Fall selbst.
Bei „Si j’ayme mon amy“ fallen die kanonartigen Stimmeinsätze auf, die in jeder Stimme unterschiedlich rhythmisiert sind. Dadurch, aber auch durch die scheinbar wahllos einsetzenden Unterstimmen, entsteht ein etwas zufälliger Eindruck, der durch hin- und hergeworfene Motive noch verstärkt wird. Dennoch ist der Satz formal streng nach dem Schema A - A2 - B - A2 - A2' geordnet.
Im Wirken Senfls kulminierte die deutsche Musik des späten Mittelalters und der Renaissance. „Im Meyen“ ist ein für die deutsche Renaissancemusik typisches Cantus-firmus-Lied, also ein strophisches Lied mit einer Hauptstimme, die von zumeist drei anderen Stimmen begleitet wird.
Im Gegensatz dazu ist bei „Ich armes Käuzlein kleine“ nicht der Tenor sondern der etwas verziertere Sopran die Hauptstimme, was eine Hinwendung zu einer moderneren Stimmführung bedeutet und bereits auf die Hochrenaissance hinweist.
Hochrenaissance
Im 16. Jahrhundert gibt es eine Vielzahl von höfischen Tänzen, wie Pavane, Gaillarde, Allemande und Saltarello, ebenso wie instrumentale Formen wie Canzone, Sonate und Carmen und Vokalsätze wie das französische Chanson, das deutsche Lied und das italienische Madrigal, die jeweils klare Strukturen haben und kompositorische Regeln befolgen, die den Grundstein für das Musikschaffen späterer Jahrhunderte legen.
Bei der Pavane „Svizzera“ handelt es sich mit Sicherheit um ein Tanzstück: auch wenn der Pavanen-Rhythmus kaum einmal deutlich hörbar gespielt wird, liegt er dem Tanz doch wie ein Puls zugrunde.
Die wunderschöne Laude „Jesu dulcis memoria“, die sich sowohl zur rein vokalen als auch zur instrumentalen Aufführung eignet, gleicht einem höfischen Springtanz, wie z. B. Galliarde oder Saltarello.
Die ebenso hübsche wie kurze Canzone „Ik weet en vrauken amorues“ ist ein Beispiel für polyphone Musik im deutschen Sprachraum des 16. Jahrhunderts. Dabei gibt es deutliche Anklänge der italienischen Kompositionstechnik, wie wir sie von Andrea Gabrieli kennen und später im Programm bei Antegnati hören werden. In diesem Fall wurde ein bekanntes Volkslied anmutig und filigran ausgesetzt.
Die Pavane von Pierre Attaignant weist eine Besonderheit auf: während Oberstimmen und Bass den eigentlichen Tanz melodisch entfalten wiederholt der Tenor ein Akkordmodell in immer gleicher Form, ähnlich einem Cantus firmus. Um die Stimme für moderne Ohren besser hörbar zu machen, haben wir sie heute mit einer Cornamuse aus dem Blockflötensatz hervorgehoben.
Obwohl er bei der Neuentdeckung der Renaissancemusik fast übersehen worden ist, wurde de Castro zu seiner Zeit nur von Orlando di Lasso an Popularität übertroffen. Das Chanson „Susanne un jour“ über einen apokryphen Text aus dem Buch Daniel war überaus beliebt und ist von vielen Komponisten aus ganz Europa bearbeitet worden.
Der liturgische Titel des Stückes „In nomine I“ ist nur Thema-bestimmend. Die gregorianische Melodie wird mit langen Notenwerten von einer Stimme gespielt, während die anderen sie in freier Entfaltung umranken. Das „In nomine“ ist eine typisch englische Werksform, die noch im elisabethanischen Zeitalter verwendet wurde. Dennoch liegt auch ein Vergleich z. B. mit dem "Veni redemptor" von Heinrich Finck nahe, der in seinem Satz ganz ähnliche Mittel verwendet hat.
Spätrenaissance
Zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wird bereits das Feld für den Frühbarock bereitet. „O sleep fond fancy“ ist ein gutes Beispiel dafür; statt sich wiederholender Strophen folgt die Musik bereits dem Text und gewinnt dadurch nach italienischen Vorbild an Expressivität. Der Kontakt der Engländer mit der italienischen Musikentwicklung war zu dieser Zeit sehr stark. So übernahmen englische Komponisten die italienischen Stile und Strukturen. Gerade bei Thomas Morley lässt sich dieser Einfluss sehr deutlich feststellen: Vergleichen Sie z. B. sein hierzulande bekanntestes Madrigal „Now is the Month of Maying“ mit Gastoldis „L’inamorato“, das Ihnen als „In dir ist Freude“ wohlbekannt sein dürfte.
Michael Praetorius hinterließ eine große Zahl wertvoller Kirchenkompositionen, aber auch weltliche Tänze sowie musikwissenschaftliche Schriften. Diese Courante ist ein Satz aus einer Tanzsuite, die in seiner Sammlung weltlicher Tänze „Terpsichore“ veröffentlicht wurde.
In Erasmus Widmanns „Musicalischem Tugendtspiegel“ haben wir es mit schlichter Gebrauchsmusik zu tun. Wesentlich ist, dass Widmann Einzelsätze, nicht die üblichen Tanzsuiten komponierte und jedes Sätzchen mit einem anderen Mädchennamen versah.
Antegnati entstammte einer der berühmtesten und ältesten italienischen Orgelbauerfamilien und wirkte als Orgelbauer, Organist und Komponist. Man darf also davon ausgehen, dass die Canzona „La Bottana“ ursprünglich für die Orgel vorgesehen war.
Gastoldis „Il Ballerino“ weist mit den einander umspielenden Sopranstimmen schon sehr deutlich auf den Frühbarock hin. Form und Rhythmus erinnern an Intermedien oder an die Auftrittsmusiken einer Monteverdi-Oper.