Musikalische Erzählungen aus dem Mittelalter
Biblische Geschichten | |
Anonym, Reading, um 1240 | Ductia |
Heinrich von Louffenberg, um 1400 | Es stot ein lind in himelrich |
Glogauer Liederbuch, 1480 | Surrexit Christus hodie |
Anonym, 14. Jh. | Chanconeta Tedescha |
Pilgerfahrten | |
Codex Las Huelgas, Spanien 13. Jh. | Belial vocatur |
Walter von der Vogelweide, ca. 1170 - 1230 | Palästinalied |
Magister Albertus, Codex Calixtinus | Congaudeant Catholici |
Anonym, Italien, 14. Jh. | Saltarello |
Llibre Vermell, Spanien, 14. Jh. | Imperayritz de la ciutat joyosa / a ball redon |
Alfons X el Sabio, Spanien, 13. Jh. | Gran poder |
Non é gran cousa se sabe | |
Liebeserklärungen | |
Heinrich VIII., 1491 - 1547 | Consort XVI |
Adam de la Halle | Tant con je vivrai |
Gilles Binchois, gest. 1460 | Amoreux suy |
Walter von der Vogelweide | Under der linden |
Heinrich VIII. | Consort VIII |
in Gesellschaft | |
Carmina Burana, 13. Jh. | Bacche bene venies |
Heinrich VIII. | Pastime with good company |
Vorwort
Lesen und Schreiben zu können war im Mittelalter alles andere als
selbstverständlich und in erster Linie den adligen Klosterbrüdern
und –schwestern und Hofbeamten vorbehalten. Es musste also andere
Wege geben, Neuigkeiten, Texte, Lehren und Traditionen
weiterzugeben. Besonders geeignet waren dazu neben Bildern,
Geschichtenerzählern und Theaterstücken natürlich auch die Lieder,
die Inhalte in konzentrierter, einprägsamer Form zusammenfassten.
Durch die Verbindung von Wort und Musik blieben sie besonders im
Gedächtnis und waren überdies dazu geeignet, den Zuhörer z. B. durch
Refrains, mit einzubeziehen.
Geschichten, Gedichte und Gesang dienten zudem in allen
Bevölkerungsschichten zum Zeitvertreib, so wie es z. B. in Chaucers
„Canterbury Tales“ beschrieben wird, in dem sich eine Pilgergruppe
abends am Ende jeder Reiseetappe im Wirtshaus versammelt und
Geschichten erzählt, die am Ende prämiert werden.
Jedes Thema war geeignet: ob geistlich oder weltlich, ob
geschichtlich oder fiktiv, ob Fabel oder Posse. Viele Erzählungen
wurden zunächst mündlich überliefert, bis sie schließlich von
Schriftkundigen aufgezeichnet wurden. Andere wiederum sind als
reines Kunstlied entstanden und lassen sich konkreten Ereignissen,
Auftraggebern und Komponisten zuordnen.
Wir möchten Ihnen heute einige dieser Geschichten und Lieder
vortragen und wünschen Ihnen eine angenehme Reise ins Mittelalter!
Biblische Geschichten
Der in Freiburg um 1400 geborene Heinrich von Louffenberg wird heute zumeist im Zusammenhang mit seiner Gesundheitslehre (Regimen sanitatis) zur Kenntnis genommen. Der Kaplan der Freiburger Pfarrkirche verfasste jedoch auch zahlreiche Lieder zum Gebrauch an kirchlichen Festtagen, darunter auch „Es stot ein lind in himelrich“, in dem auf anrührende Weise die Verkündigungs-Szene nacherzählt wird.
Das Glogauer Liederbuch ist eine um 1480 entstandene Sammlung von 292 geistlichen und weltlichen Vokal- und Instrumentalstücken der Spätgotik aus Schlesien. Es gilt als der älteste bekannte Stimmbuchsatz aus Zentraleuropa, der in drei Stimmbüchern (Discantus, Tenor, Contratenor) überliefert ist. Ein kleinerer Teil davon hat deutsche Titel und teilweise auch Liedtexte. Es handelt sich um eine Gebrauchssammlung für das gesellige Musizieren, die einer kleinen klösterlichen Gemeinschaft zur Unterhaltung diente.
In „Surrexit Christus hodie“ geht es um die Ostergeschichte: Im
überschwenglichen Dreiertakt erzählt das Lied, wie die Frauen zum
leeren Grab Christi gegangen sind, um vom Engel zu erfahren, dass
Jesus auferstanden ist.
Das Instrumentalstück “Chanconeta Tedescha” ist ein Spielmannstanz
in Rondo-Form. Die einstimmige Melodie, die von verschiedenen
Blockflöten und Fiedeln vorgetragen wird, wird von einem Bordun
begleitet.
Pilgerfahrten
Wir wenden uns nun einem zentralen Thema des Mittelalters zu: wer immer es sich leisten konnte, unternahm mindestens einmal im Leben eine Pilgerfahrt. Prominente Ziele waren z. B. Köln mit dem Schrein der heiligen drei Könige, Canterbury mit dem Grab Thomas Beckets, Rom als Zentrum der Christenheit, Santiago de Compostela, das spanische Kloster Montserrat und Jerusalem. Die großen Pilgerfahrten waren lang und nicht ungefährlich, doch an ihrem Ende erhoffte man sich Sündenablass oder Heilung von schwerer Krankheit. Man reiste in möglichst großer Zahl, um den Gefahren durch Gesetzlose zu entgehen. Unterkunft fand der Pilger in den Gästehäusern der Klöster entlang der Pilgerroute oder in Gasthäusern. Die Musik, der man unterwegs begegnete, konnte entweder auf das Ziel der Wallfahrt hinweisen, oder, wie im nächsten Beispiel, eine “lokale Spezialität” repräsentieren.
Der “Codex Las Huelgas” stammt aus dem 13. Jahrhundert und wird seitdem im Zisterzienserinnen-Kloster Santa Maria la Real in Burgos aufbewahrt. Die darin enthaltenen 176 Kompositionen waren für die Aufführung durch den Nonnenchor gedacht, der damals aus 100 Sängerinnen bestand. Der vierstimmige Satz “Belial vocatur” verblüfft vor allem angesichts der Tatsache, dass den Zisterziensern die Aufführung mehrstimmiger Musik eigentlich durch die Ordensregel verboten war. Die Dissonanz des Satzes scheint inhaltlich etwas sperrige Thema widerzuspiegeln: Beelzebub, der listige Verführer, ist überall und führt einen neuartigen Krieg. Gesegnet ist, wer ihm nicht unterliegt, sondern in der Liebe verweilt. Der, den Simeon in den Armen hielt (also Jesus), ist Herr aller Dinge. Die Natur verwundert sich über diese göttliche Vermischung. O, lasst uns den Herrn preisen.
Das Werk Walters von der Vogelweide ist eines der umfangreichsten des deutschen Mittelalters. Eines seiner bekanntesten Lieder ist das Palästinalied. Man kann sich gut vorstellen, dass dieses Lied auf einer Pilgerreise im Takt der Schritte gesungen wurde. Walter, der selbst nie in Jerusalem gewesen ist, malt ein Bild des Ortes, an dem Gott Mensch geworden, getauft und gekreuzigt worden ist und mahnt die Menschen, ein frommes Leben zu führen.
Der fünfteilige Codex Calixtinus, dessen Bezeichnung auf den Papst Calixtus II. zurückgeht, der lange irrtümlich als Verfasser des Werks galt, bildet gewissermaßen die offizielle Grundlage für den Jakobs-Kult. Durch ganz Europa führten von Deutschland, England, Frankreich und Italien aus Jakobswege nach Santiago de Compostela. Folgerichtig finden sich im „Liber Sancti Jacobi“, so der ursprüngliche Name des Codex, Anweisungen und Ratschläge für die Durchführung einer solchen Wallfahrt. Was den Codex für uns besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass er eine der ersten Quellen für mehrstimmige Kompositionen darstellt, die im Gegensatz zu musiktheoretischen Lehrstücken ganz offenbar für den Gebrauch komponiert worden sind.
Das dreistimmige „Congaudeant Catholici“ ist das einzige überlieferte Lied des Pariser Kantoren und Komponisten Magister Albertus und besingt mit den jubelnden Melismen im Refrain den Tag der Aufnahme des heiligen Jakobs in den Himmel.
Es folgt ein italienischer “Saltarello”, wieder ein Spielmannstanz, diesmal in der Form einer Estampie. Kennzeichnend hierfür ist ein Thema, das mit zwei unterschiedlichen Schlüssen wiederholt wird. Darauf folgt ein neues Thema oder eine Ergänzung des ersten Themas, das wieder mit denselben Schlüssen beendet wird usw.
Das Llibre Vermell de Montserrat ist eine Sammlung
spätmittelalterlicher Lieder und liturgischer Texte aus dem 14.
Jahrhundert, die der Marienfrömmigkeit dienten.
Den Zweck der Liedersammlung wird im Vorowrt so beschrieben:
Da es vorkommt, dass die Pilger, die in der Kirche der heiligen
Maria in Montserrat Nachtwache halten, singen und tanzen wollen, und
dies auch tagsüber auf dem Kirchplatz, und sie dort nur sittliche
und andächtige Lieder singen dürfen, sind einige hier
niedergeschrieben. Diese sollten mit Rücksicht und Mäßigung
verwendet werden, damit jene nicht gestört werden, die ihrem Gebet
und geistlichen Kontemplationen nachgehen möchten.
Da es in Montserrat keine Übernachtungsmöglichkeiten gab, mussten die Pilger die Nacht in der Kirche verbringen. Sie verwandelten so den liturgischen Raum in eine Pilgerherberge. Die Lieder des Llibre Vermell waren dafür gedacht, die traditionellen säkularen Lieder und Tänze der feiernden Pilger während der Andacht zu ersetzen. Um dies zu erreichen, haben diese Lieder teils einen volkstümlichen Klang. Wahrscheinlich wurden hierzu die Melodien von traditionellen Liedern genutzt, während die säkularen Texte durch religiöse ersetzt wurden.
Die Motette Imperayritz de ciutat joyosa enthält zwei verschiedene Texte, die gleichzeitig gesungen werden können, obwohl dieser Stil zur Entstehungszeit des Llibre Vermell bereits nicht mehr gebräuchlich war. Alle Strophen beider Stimmen beschreiben jedoch die verschiedenen Eigenschaften und Tugenden Marias und bitten um Fürsprache vor Gott.
Die Cantigas de Santa Maria sind eine der größten Sammlungen von
Liedern des Mittelalters. Sie besteht aus 420 Gedichten, die vor
allem dem Lobpreis der Jungfrau Maria dienen.
Dieses Liederbuch Alfons X. ist dabei nicht nur eine bloße
Ansammlung von Liedern und Wunderberichten, sondern ein kulturelles
Projekt von großer Bedeutung für die mittelalterliche Literatur,
Musik und Kunst. Ihre Vollendung nahm den Großteil der Amtszeit
Alfons X. ein. Er sah sie als ein wichtiges Mittel zu seinem
politischen Überleben und seinem persönlichen Seelenheil.
„Gran poder“ beschreibt, wie Maria einen Schiffbrüchigen gerettet hat, der ins Meer gefallen war und wie sie ihn über das Wasser zum Hafen geführt hat.
„Non é gran cousa“ ist eine sehr volkstümliche Schilderung: Ein Pilger, der auf dem Jakobsweg Ehebruch begangen hatte und ohne Beichte weitergezogen war, wird durch den als Jakobus verkleideten Teufel dazu verführt, sich vermeintlich zur eigenen Seelenrettung zu verstümmeln und sich dann selbst die Kehle durchzuschneiden. Der Teufel will den Pilger gerade in die Hölle entführen, als der echte Jakobus sein Veto einlegt. Der Teufel habe schließlich in seinem Namen gehandelt, also könne der Pilger doch nicht für etwas, das er in gutem Glauben getan habe, bestraft werden! Der Teufel ist der Meinung, dass ein Selbstmörder auf jeden Fall ihm gehören müsse. Maria wird als Schlichterin angerufen und entscheidet, dass der Pilger sein Leben zurückbekommen soll, um Buße zu tun und das Heil zu erlangen. Das Lied schließt mit der Zeile „Doch erhielt er nicht zurück, womit er einst sündigte und was er dann abschnitt.“
Liebeserklärungen
Nach einem Consort, komponiert vom englischen König Heinrich VIII., wenden wir uns weltlichen Themen zu.
Adam de la Halle zählt zu den bekanntesten Trouvères. Er wurde 1271 Ménestrel des Grafen Robert II. von Artois und war dadurch nach Neapel an den Hof des Königs von Sizilien Karl von Anjou gekommen. In Neapel trat Adam als Autor von Theaterstücken hervor. Er hat neben seinen einstimmigen Liedern dreistimmige Rondeaus und Motetten komponiert und stellt hierin die Verbindung des einstimmigen Trouvère-Gesangs zur mehrstimmigen Kunstmusik her.
Das Liebeslied „Tant con je vivrai“ kann sowohl geistlich wie auch weltlich verstanden werden: Mein Leben lang werde ich nur dich lieben, ich werde nie von dir lassen, ich werde nur dir dienen.
Gilles Binchois war ein franko-flämischer Komponist, Dichter und
Kleriker.
Neben Dufay ist Binchois der prominenteste Vertreter der ersten
Generation der franko-flämischen Musik. Seine Chansons zeichnen sich
durch strenge Ökonomie in Form, Melodik, Rhythmik und Stimmführung
aus. Die Frische vieler seiner Chansons hat ihm den Titel „Vater der
Fröhlichkeit“ erworben.
„Amoreux suy“ erzählt von Verliebtheit und vom Werben um die angebetete Dame, von der schon ein Blick genügen würde, um alle Wünsche zu erfüllen.
Walter von der Vogelweides „Under der linden“, eine Mischung aus Pastorelle, Niederer Minne und „Mädchenlied“, wird aus der Sicht eines Mädchens erzählt, die sich unter einer Linde auf der Heide mit ihrem Geliebten traf. Sehr diskret erzählt sie nur von seinen Küssen; was sonst geschehen sein mag, weiß nur die Nachtigall, die beim Stelldichein auf der Linde gesungen hat!
Walters „Mädchenlieder“ lösen zeitlich wahrscheinlich die Frühphase, die stark vom klassischen Minnesang geprägt ist, ab. Eine scharfe Abgrenzung zu den Liedern der „Hohen Minne“ ist aber nicht möglich: die Übergänge sind fließend.
Wir beenden diesen Abschnitt mit einem weiteren Consort aus der Feder Heinrichs VIII.
In Gesellschaft
Auch im Mittelalter hat man es verstanden, Feste zu feiern, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Carmina Burana (lateinisch für Lieder aus Benediktbeuern) ist der Name einer Anthologie von 254 Lied- und Dramentexten, die in der Bibliothek des Klosters Benediktbeuern gefunden wurde.
Die Texte wurden überwiegend im 11. und 12. Jahrhundert (einige auch erst im 13. Jahrhundert) von zumeist anonymen Dichtern verfasst. Die Carmina Burana gilt als eine der wichtigsten Sammlungen der Vagantendichtung. Die breite klassische Bildung der Verfasser und ihre Eleganz beim Versemachen und im Umgang mit der lateinischen Sprache zeigen allerdings, dass sie in Wahrheit keine heruntergekommenen fahrenden Studenten waren, sondern allenfalls Erinnerungen an umtriebige Studenten- und Wanderjahre pflegten. Oft waren die abenteuerlichen Reisen der fahrenden Scholaren nur ein Mythos und ein literarischer Topos, aus dem nicht unmittelbar auf die mittelalterliche Lebenswirklichkeit geschlossen werden kann.
Die Carmina Burana sind in vier Gruppen unterteilt, die allerdings nicht streng durchgehalten werden: moralische und Spottgesänge, Liebeslieder, Trink- und Spielerlieder und zwei längere geistliche Theaterstücke.
„Bacche Bene Venies“ ist, wie der Name schon andeutet, ein Trinklied, in dem Bacchus und dem guten Wein gehuldigt wird.
„Pastime with good company“ ist wohl eines der bekanntesten
Lieder von Heinrich VIII.
Darin beschreibt der Monarch, dass es nichts Besseres als den
Zeitvertreib in angenehmer Gesellschaft bei Jagd, Gesang und Tanz
gibt.